Wesensbilder

Zum Werk von Heiko Börner

Seit Urzeiten war es die Gestalt des Menschen, die der Bildhauer plastisch formte: Die Götter der Griechen hatten Menschengestalt, die Heiligen, die Engel und die Teufel. Zweifellos beherrschte das Menschenbild auch die Malerei – aber nicht mit der Ausschließlichkeit, wie es bei der Plastik der Fall war. Bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert, ja sogar bis weit in das 20. Jahrhundert hinein konnten die Bildhauer einzig in der Gestalt des Menschen ihre religiösen, gesellschaftlichen, weltanschaulichen und allegorischen Vorstellungen sichtbar machen.
Erst im 20. Jahrhundert erlebte die Bildhauerei einen grundlegenden Wandel: Die Skulptur verlor an klassischer Glätte und an Endgültigkeit der Form. Sie wurde zum Ausdruck seelischer Spannungen und des „Nicht-Greifbaren“ von Empfindungen und Erregungen und ermöglichten dem Betrachter neue Wege des Sehens. Seitdem bestimmt die klassische Frage in der Bildhauerei, „INHALT oder FORM?“ die Diskussion. Dabei besitzt jede Form ihren Inhalt und jeder Inhalt hat eine eigene Form. In der Bildhauerei befasst sich der Künstler mit der Beziehung zum Material, mit der Beziehung zur Natur und mit den Ursachen der Erscheinungen der Dinge überhaupt – das alles fasst er in Bildwerken zusammen.

„Flash“ im Sinne von Blitzlicht oder einer Momentaufnahme ist Programm in Börners Werk. Seine Objekte sind raumzeitliche Gebilde. Sie machen Prozesshaftes erfahrbar. Die scheinbar gefalteten, verdrehten, gedehnten oder gestauchten Skulpturen erstaunen den Betrachter, der sich die Augen reibt und fragt: „iIst das wirklich der Werkstoff Holz? Wenn es Holz ist, wie sind dann derartige Objekte entstanden? Kann man Holz vielleicht doch schmelzen und in Formen gießen, oder bestehen die Bildwerke aus verschiedenen Stücken, die so aneinandergesetzt wurden, dass dem Betrachter die Nähte verborgen bleiben?“ Die Wahrheit ist, jede dieser Holzskulpturen wurde aus einem Stück gearbeitet. Dazu bedarf es einer künstlerischen Vision, der vollkommenen Beherrschung des Werkstoffes und der großen bildhauerischen Meisterschaft des Künstlers!

Die Momentaufnahmen, um die es in Börners Arbeiten geht, visualisieren auch seine grafischen Filmsequenzen. Diese Videos zeigen jeweils das Prinzip einer bildhauerischen Arbeit – wie in einem Daumenkino löst sich ein Teil des Holzstückes. Obwohl das Teil mit dem Grundblock verbunden bleibt, dehnt es sich, verdreht sich quasi in der Luft, um dann wieder zu seinem Ursprungsort und seiner Ursprungsform zurückzukehren. Alles ist wie vorher, aber einen Moment, eine Sequenz dieses Bewegungsprozesses hält Heiko Börner in seinen Bildwerken fest. Das bedeutet für uns als Betrachter, dass wir die Form zurück- und auch weiterdenken müssen, ganz entgegen unseren altgewohnten Seherfahrungen und überhaupt unseren Erfahrungen mit dem Material Holz. Auch wenn die Filmsequenzen das Verständnis des Betrachters für die Dynamik der Objekte erleichtern: dDie Videos und ebenso seine Kohlezeichnungen will Börner als eigene Kunstwerke, nicht als Entwürfe oder Vorzeichnungen zu den Skulpturen verstanden wissen.

Wie entstehen Börners Holzskulpturen? Er beginnt immer mit einem Holzstück, wie einem Stamm oder Klotz und erarbeitet dann aus diesem Stück die Objekte, die er generell aus geometrischen Grundformen ableitet. Die Transformation geometrischer Grundformen bildet die Basis für Börners Arbeiten, nicht nur für die Skulpturen, sondern auch für die Kohlezeichnungen und die Videos. Die Ideen, die er im Kopf hat, nehmen Gestalt an – als rätselhafte Skulpturenwesen voller Eigenleben. Dazu gehören bei den Holzarbeiten auch die feinen linearen Strukturen, die die Oberfläche aller Objekte bilden. Sie sind so fein gearbeitet, dass man automatisch annimmt, sie seien mit extra dafür gemachten bildhauerischen Werkzeugen geschaffen worden. Weit gefehlt! Er schlägt die Rillen mit  der Axt oder dem Stechbeitel in das Werkstück. Heiko Börner hat, wenn er beginnt, den Holzstamm zu bearbeiten, eine Vorstellung von dem Objekt, das er schaffen will; aber die endgültige Form entsteht im Arbeitsprozess. Der Bildhauer Tony Cragg hat das sehr treffend „Denken mit Material“ genannt. Die Skulptur ist für Börner an einem „Jetztpunkt“ vollendet, nämlich dann, wenn für ihn das Material so transformiert ist, dass es im Fluss ist.

Bei Heiko Börner wird die Skulptur zum dynamischen und prozessualen Ergebnis einer künstlerischen Handlung erklärt. Die Integrität des Materials wird niemals verletzt, noch verfremdet. Im Gegenteil, die spezifischen Eigenschaften werden explizit herausgestellt. Fehlstellen, wie Astlöcher, werden in die Arbeit einbezogen. Dennoch sieht das Holz verbogen oder gefaltet aus. Es überschreitet, die in der Realität mögliche Transformierbarkeit des Materials – und die am Ende jedes Werkprozesses aufgetragene feine, durchsichtige weiße Lasur unterstreicht den Prozess und gibt der Skulptur neben seiner ihrer ‚„Natürlichkeit‘“ einen Hauch von ‚„Künstlichkeit‘“.
Für den Betrachter wird die Wahrnehmung der Kunst von unmittelbaren Erfahrungen begleitet. Die Werke thematisieren einerseits Bewegung, andererseits statische Formen. Die Darstellung des naturgetreuen Abbildes als perspektivisches Daseinsbild mit sorgfältig entwickelten, räumlich geordneten Schichten ist nicht relevant für Börner. Vielmehr geht es um Formulierungen ästhetischer Volumen im Raum, wobei er Skulpturen und Holzreliefs mit organisch fließenden Formen schafft, die nicht mehr das Erscheinungsbild der Natur visualisieren. Die Wahrnehmung der Skulpturen ist abhängig vom Standpunkt des Betrachters und verändert sich von jedem Blickpunkt aus. Neben dem Spiel mit wechselnden Perspektiven und deren Wahrnehmung variiert Börner die Themen Schwerkraft und Gleichgewicht als physikalische Problematik von Körper und Raum. Gewicht und Gegengewicht sind sorgfältig ausbalanciert. Das führt dazu, dass trotz Monumentalität und Schwere, Leichtigkeit evoziert wird. Es entstehen Strukturen, die zwischen abstrakter und organischer Form die Natur zu assimilieren versuchen.

Heiko Börner lehnt inhaltliche Aspekte und Sinnzuschreibungen an das Material ab. Auch mit kunstgeschichtlichen Kategoriebegriffen ist seine Arbeit nicht zu fassen. Die Objekte wünscht er von allen erzählerischen und metaphysischen Intentionen und Bezügen frei.

Und dennoch: Auf der Suche nach Harmonie und universeller Form, fahndet er nach Wesens- und nicht Erscheinungsbildern. Inspiration bedeutet, den Moment der besonderen Anmut zu erfassen, den einen Augenblick der Schönheit. In Börners Skulpturen entfaltet sich ein archaisches, nuancenreiches Spiel von Formen: eEs verwandeln sich Hölzer in faszinierende Gestalten. Seine eigenwillige fantasiereiche Formensprache reicht vom Schlichten zum Opulenten, vom überbordend Sinnlichen und Chaotischen, zum kühl Abstrakten, vollkommen Geordneten. Die Arbeiten sind Fragmente einer Fantasiewelt, die den flüchtigen Augenblick überdauern. Sie verbinden Tradition und Moderne auf poetische Weise.

Trotz aller kühnen Verdrehungen sind die räumlichen Grenzen des Werkstoffes Holz immer sichtbar und erfahrbar. Das erklärt vielleicht, warum der Bildhauer Heiko Börner auch mit raumgreifenden Installationen aus einfarbigem Absperrband arbeitet. Mit diesen Installationen überwindet er jeden Raum und verbindet architektonischen Strukturen spannungsvoll miteinander. Obwohl das Material Kunststofffolie keine Verwandtschaft zum Holz hat, lassen sich diese „Kunststücke“ in ihren Verdrehungen und der endgültigen Form sofort als seine Arbeiten identifizieren und ermöglichen dem Betrachter auch einen Blick nach innen, was bei den Holzarbeiten so kaum möglich ist. Das eröffnet dem Künstler Heiko Börner eine zusätzliche Möglichkeit, den Raum und im Raum zu verblüffen.

Angela Holzhäuer
Kunsthistorikerin M.A.

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