Kunsthalle Vogtland „Skulptur, Grafik“
Rede zur Ausstellungseröffnung am 15. Mai 2009
Dr. Susann Ortmann, Kunsthistorikerin
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
bis ins 18. Jahrhundert hinein sollte Literatur vor allem eines sein: sie sollte so sein wie die bildende Kunst. Texte mit langen malenden Beschreibungen standen hoch im Kurs; von literarischen Gemälden war die Rede. Gut war, was man sich auch als Bild oder Statue vorstellen konnte. Das rief Kritiker auf den Plan, allen voran den bekannten Aufklärer Lessing, der prompt eine kunsttheoretische Streitschrift verfasste: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Die Zeichen der bildenden Künste, so Lessing, seien Farben und Formen im Raum, ihr zentraler Gegenstand also das Nebeneinander von Körpern. Die Poesie mit ihrer Reihung von Worten dagegen konzentriere sich vor allem auf das Nacheinander des Dargestellten, auf die zeitliche Folge der Handlungen. Kurz: die bildenden Künste seien eine Raumkunst, die Literatur eine Art Zeitkunst.
So weit so gut, was aber hat das alles mit Heiko Börner zu tun? Schreibt der auch? Nein, aber seine Arbeiten bringen Lessings Theorie mit ihrer fein säuberlichen Trennung der Künste gehörig ins Wanken. Der Faktor Zeit spielt hier nämlich eine nicht unwesentliche Rolle, eine Hauptrolle, wenn man es genau nimmt, obwohl es sich doch augenscheinlich um Formen der Raumkunst, der Bildhauerei, handelt. Wie das?
Betrachtet man Börners Werke, dann lassen sich zunächst einmal drei formale Ansätze unterscheiden: Eine erste Werkgruppe basiert auf einem scheinbar fließenden Übergang verschiedener geometrischer Formen ineinander. Da löst sich zum Beispiel eine Kugel aus einer Quaderform heraus. Da beschreiben die geraden Enden des Holzes einen perfekten Bogen oder aber werden massive Holzblöcke gegeneinander verdreht. Der ursprüngliche feste Materialcharakter des Holzes hebt sich hierdurch tendenziell auf. Er verwandelt sich in den einer zähen, leicht formbaren Masse und scheint den Prozess der Formung dabei unmittelbar sichtbar zu machen.
Eine zweite Gruppe von Arbeiten wird dagegen aus spitzen, pfeilartigen Dreiecksformen und Quadern gebildet. Sie markieren verschiedene Richtungsänderungen und zwingen den Betrachter zu ungewohnten Blickwechseln. Zwar sind auch sie aus einem Stück gearbeitet; die ursprüngliche Eigenart des Stammes mit seiner Rundung und inneren statischen Geschlossenheit ist jedoch beinahe verloren gegangen. Wer denkt beim Betrachten derartiger Werke tatsächlich noch an eine Eiche oder einen Nussbaum?
Dann wären da noch Arbeiten, die sich neben dem Werkstoff Holz ein anderes Material mit ins Boot geholt haben: Stahl oder Eisen. In der Arbeit Eiche/Stahl, am Gelände der Sächsischen Landesgartenschau hier in Reichenbach installiert, oder auch der ausgestellten Arbeit Ulme/Stahl werden zwei Holzkörper durch ein Netz aus Stahlstäben mit einander verbunden. Anders als in den reinen Holzarbeiten entstehen so, je nach Standpunkt und Bewegung des Betrachters, immer neue optische Überschneidungen. Sie nähern die Bildhauerkunst dem Bereich des Graphischen an und verleihen den Werken zudem eine besondere Leichtigkeit, Beschwingtheit, die ihr tatsächliches Gewicht beinahe vergessen lässt.
Und was ist nun mit der Zeit? Nun, die muss sich zugunsten des Künstlers noch einen Moment gedulden. Heiko Börner ist gebürtiger Thüringer, er stammt aus Arnstadt. Nach einem kurzen Ausflug an die Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar, hat er sich die Holzbildhauerei auf verschiedenen Stationen zu Eigen gemacht. 1993 bis 96 besuchte er die Berufsfachschule für Holzbildhauerei in Empfertshausen, 1997 bis 99 dann die Meisterschule für Holzbildhauerei München. In den Jahren 2000 bis 2004 schließlich studierte er an der Akademie für bildende Künste Wien. Hier erhielt er 2002 ein Stipendium des österreichischen Kultusministeriums sowie 2004 den Meisterschulpreis der Akademie. Seitdem arbeitet er freischaffend in Berlin und zeitweilig auch in Thüringen, und wenn er dort nicht anzutreffen ist, nimmt er möglicherweise gerade an einem Bildhauersymposien irgendwo in der Fremde oder an einem internationalen Workshop irgendwo in der Heimat teil.
Aber kommen wir zurück zu den Werken und mit ihnen zur Frage der Zeit. Wer mit Holz arbeitet, der berührt den Faktor Zeit schon in dem Moment, in dem er sich für das Material selbst entscheidet. Denn Holz konserviert Zeit und es tut dies auf eine besonders augenfällige Weise: anhand der Jahresringe. Kein Werkstoff gibt sein Alter so ehrlich und unmissverständlich preis wie das Holz. In ihm wird gleichsam eine langsame, durch das jahrelange Wachstum bedingte Entwicklung offenbar. Das heißt aber auch, dass es sich kaum um ein neutrales Medium handelt. Was da bearbeitet wird, hat immer schon sein eigenes Leben hinter sich und dieses Leben hat Spuren hinterlassen – ob der Bildhauer das nun will oder nicht. Und schließlich: Holz arbeitet auch als Werkstoff weiter. Es verliert an Feuchtigkeit, ändert seine Struktur, seine Farbe, es kann verwittern und in diesem Fall bekommt der Faktor Zeit eine ganz neue Bedeutung: die der Vergänglichkeit nämlich.
Heiko Börner misst der vierten Dimension aber noch einen anderen Stellenwert bei, der mit den beschriebenen Materialeigenschaften allein nicht zu fassen ist. Worum es sich dabei handelt, verraten kleine Filmsequenzen des Künstlers, aufbauend auf Zeichnungen und Radierungen. In rascher Aufeinanderfolge vermitteln sie den Eindruck realer Bewegungsabläufe und ungewöhnlicher Konstellationen. Was etwa geschieht, wenn zwei Holzblöcke aufeinanderprallen? Für gewöhnlich nichts, hier aber verschmelzen sie zu einer kugelförmigen Masse und verrauschen kometenartig im Nirgendwo. Oder aber ein Holzquader wird bis zum Zerreißen gegeneinander verdreht bzw. auseinander gezogen, eine Scheibe trifft auf einen Kubus und verformt ihn zu einem trichterförmigen Gebilde, und und und. Die verschiedenen Gruppen von Arbeiten verbindet also die Idee einer quasi ins Holz „gegossenen“ Bewegung, sei dies nun eine Drehung, eine Dehnung oder eine Kollision von Körpern. Immer wird Masse in Raum und Zeit bewegt und hierdurch verändert.
Nun ist die Idee, Zeit und Bewegung in die Bildhauerkunst zu überführen, zugegeben, nicht ganz neu. Einen besonderen Durchbruch erreichten bereits die Futuristen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, insbesondere Umberto Boccioni mit seiner Skulptur Urformen der Bewegung im Raum von 1913. Die aufeinander folgenden Bewegungsstadien einer Figur, einer etwas befremdlichen Mischung aus Mensch und Maschine, erscheinen übereinander gelagert und in eine Plastik gegossen. Der grundlegende Ansatz ist also auch hier, Zeit einzufrieren. Aber es besteht doch ein entscheidender Unterschied: Bleiben die einzelnen Bewegungsschnitte bei Boccioni noch immer sichtbar und beziehen sich auf eine unveränderliche Gestalt, so verschmelzen sie in Börners Arbeiten zu einem fest geronnen Fluss. Dessen Verlauf ist nicht immer vorhersehbar. Zwar erinnert er an mikro- wie makrokosmische Prozesse, Kernfusionen etwa oder die Entstehung von Planeten; letztlich aber bleibt er fingiert. Was wäre wenn, fragt der Künstler und setzt, oder besser gesagt, sägt seine Antwort ins Bild.
Doch auch einfache Bewegungen sind nicht einfach als solche auszumachen. Von Bewegungsschnitten keine Spur. Um greifbar zu werden, hat der Künstler der unsichtbaren Zeit eine materielle Gestalt gegeben, hat sie gewissermaßen zu einem Körper im Raum werden lassen. Besonders deutlich wird dies in der bereits genannten Arbeit Eiche/Stahl. Die Stahlstäbe sind nicht einfach räumliche Verbindungslinien, sie demonstrieren zugleich den zeitlichen Ablauf einer Bewegung. Die beiden Holzkörper bilden Ausgang und Endpunkt einer Torsion, das Liniengeflecht zwischen ihnen visualisiert das kinetische Kraftfeld. Zeit zum Anfassen – Lessing wäre erstaunt!
Die Dreiecksformen setzen demgegenüber auf die Vergegenwärtigung abrupter Blickwechsel, wie sie vor allem durch Schnitttechniken des Films vertraut sind. Dem natürlichen Wachstum des Holzes wird bewusst entgegen gearbeitet. Nicht organisch fließend, sondern eckig, der Holzmaserung gegenläufig erscheinen die Formen. Vergeblich sucht das Auge nach einem ruhenden Punkt. Immer wieder wird es aufgefordert, einen neuen Ausgang zu nehmen, das Werk – wenn möglich – zu umrunden und dabei seinem Aufbau auf die Spur zu kommen.
Wenn es dem Künstler so sehr um das Thema Bewegung zu tun ist, so könnte man nun etwas spitz nachhaken, warum widmet er sich dann trotz allem der doch vordergründig statischen Holzbildhauerei? Wären kinetische Objekte oder der Film wie im Beispiel der Sequenzen nicht interessantere Genres?
Abgesehen davon, dass sich solche Fragen immer stellen, aber selten befriedigend beantworten lassen, lässt sich Folgendes mutmaßen: Das Thema Bewegung wird für einen Holzbildhauer vor allem deshalb interessant, weil es auf Widerstand stößt. Ein Baum ist verwurzelt und auch im abgeschlagenen Zustand strahlt er weit mehr den Eindruck erdschwerer Statik aus als den von Dynamik und Mobilität. Umso größer erscheint die Herausforderung, gerade das Material Holz mit den Sujets Zeit und Bewegung zu konfrontieren, seinen Charakter gewissermaßen aufzubrechen und, zumindest optisch, in einen ganz anderen Werkstoff zu verwandeln.
Das Ergebnis durchbricht unsere Wahrnehmungsgewohnheiten und spielt unserem Weltwissen einen Streich. Holz ist hart, hatten wir eigentlich angenommen, aber wer weiß. Und auch die perspektivischen Verzerrungen der Arbeiten können zuweilen täuschen. Nicht alles, was plastische Tiefe vorgibt, löst diese tatsächlich auch ein. Man muss schon genauer hinsehen, näher heran treten, um die verführerische Fernwirkung der Werke auf ihre Richtigkeit zu überprüfen – Revision erlaubt!
Und so kann man den Arbeiten Börners, bei allem kunsttheoretischen oder auch philosophischen Hintergrund, eine gewisse spielerische Leichtigkeit und Ästhetik nicht absprechen. Sicher, hier lässt sich über das Verhältnis von Raum und Zeit reflektieren, man kann an gekrümmte Raumzeiten denken oder das Verschmelzen und Diffundieren kleinster wie größter Massen im Universum. Wem das alles zu weit geht, der kann aber auch einfach staunen und genießen. Was sich alles so mit Holz anstellen lässt? Und wie oft immer Sie die Skulptur Eiche/Stahl umrunden, Sie werden wieder neue graphische Strukturen entdecken, neue optische Reize ausmachen und Sie werden wieder Gefallen an Ihrer Entdeckung finden. Zumindest geht es mir so. Und warum sollte es bei Ihnen anders sein?