„Holz ist nur ein einsilbiges Wort, doch dahinter verbirgt sich eine Welt voller Schönheit und Wunder.“
Theodor Heuss (1884-1963)
Gegen den Strich
Zum Werk von Heiko Börner
Wer zum ersten Mal den Holzskulpturen Heiko Börners begegnet, reibt sich verwundert die Augen und fragt sich: „Ist das überhaupt möglich?“ Die Gebilde wirken so, als seien sie gefaltet, gestaucht, verdreht und gedehnt worden oder ins Fließen geraten. Aber sie wurden nicht montiert und manipuliert, sondern aus einem Stück Holz gearbeitet. Sie erscheinen so, als wären Kräfte am Werk gewesen, die das Material in eine Form gezwungen haben, die ihm eigentlich fremd ist. Oder genauer: Die unseren Seherfahrungen widerspricht, weil sie unseren Sehgewohnheiten zuwiderläuft. Seltsame Metamorphosen sind im Gange: Kantige Gebilde scheinen auseinandergezogen und einer Torsion unterworfen oder auch gebogen worden zu sein. In anderen Fällen wurde scheinbar ein Ganzes zertrennt. Nun hält ein Verbindungsstück die voneinander entfernten Teile zusammen und erweckt den Eindruck, das stabile Holz sei eine plastische Masse geworden, die sich in die Länge ziehen lässt, bevor sie reißt. Im Gegensatz zu den glatten Oberflächen der Teile, die es verbindet, wirkt es nahezu wie ein Faserbündel oder wie ein gewachsener Stamm. Dann wieder gibt es Arbeiten, in denen eine tropfenförmige Struktur mit einem quaderförmigen Körper verbunden ist. So, als bewege sie sich aus ihm heraus und hänge nur noch lose an ihm wie ein Tropfen an einem Wasserhahn.
Der sichtbaren Natur entnommene Formen, gar Anthropomorphismen, sind Heiko Börners plastischem Vokabular fremd. Nur ganz entfernt finden sich Anklänge an Organisches, an trichterförmige Blütenkelche oder die Kappen von Pilzen. In dynamischer Schräge aufeinander zu laufende Flächen und Kanten kontrastieren mit gebogenen, sich rundenden oder verdrehenden Partien, deren stark aufgefaserte, teils mit der Axt erzeugte Oberflächenstruktur die Verlaufsrichtung der wirkenden Kräfte sichtbar macht. Genauer müsste man sagen, sie dienen einer raffinierten Augentäuschung, denn Holz lässt sich nur sehr begrenzt verbiegen oder verdrehen. Heiko Börner beherrscht das Material und die Techniken, mit denen man es formen kann. Dem Absolventen einer Berufsfachschule und einer Meisterschule für Holzbildhauerei, der an der Wiener Akademie der bildenden Künste bei Bruno Gironcoli studiert hat, stehen alle Mittel zu Gebote, um das scheinbar Unmögliche glaubhaft zu machen und uns durch visuelle Evidenz zu überzeugen, dass das, was wir zu sehen meinen, auch real ist. Ausgehend vom Material hat Heiko Börner in den zurückliegenden anderthalb Jahrzehnten seine Ausdrucksformen einer rigorosen Klärung unterworfen und sie auf gleichsam elementare Formen reduziert. Im Ergebnis sind Objekte von dynamischer Schönheit entstanden, die nicht aus vordergründigen Effekten resultiert, sondern aus der Meisterschaft des Bildhauers, der seine Vorstellungen adäquat umzusetzen weiß.
Unter den zeitgenössischen Bildhauern, die heute mit dem Material Holz arbeiten, besetzt Heiko Börner einen ganz eigenen Platz. In gewisser Weise scheint sich die Renaissance des Holzes als Rohstoff für die künstlerische Bearbeitung, die in der Moderne begann, fortzusetzen. Vor allem diejenigen, denen es um Möglichkeiten für eine Steigerung der Ausdruckswerte ging, griffen zum Holz. Unter ihnen befinden sich so klangvolle Namen wie Ernst-Ludwig Kirchner, Ernst Barlach, und Constantin Brâncuşi sowie Henry Moore und Barbara Hepworth in England. Für all diese Künstler wurde – wenn auch in unterschiedlichem Maße – die Entscheidung für das Holz durch die Anmutungswerte, die organische Wärme dieses naturwüchsigen Materials bestimmt. Von Brâncuşi heißt es, er habe jeweils den Rohstoff gewählt, in dem er den ihm vorschwebenden Gehalt am besten ausdrücken konnte: Marmor eignete sich aus seiner Sicht am besten für eine in das Wesen der Sache eindringende Darstellung der Anfänge des Lebens, Holz mehr für die ungestüme Darstellung von dessen Widersprüchen. Ausdrucksträger vitaler Kräfte bis hin zum Animistischen zu sein, ist offensichtlich eine dem Material Holz inhärente Möglichkeit, der sich die erwähnten Künstler für ihre entweder anthropomorphen oder zumindest organoiden Formfindungen gern bedienten, wenn sie auch sicher nicht alle so weit gegangen wären wie Brâncuşi, der behauptete, dass die Kunst des Holzschnitzens sich nur bei den rumänischen Bauern und jenen afrikanischen Stämmen erhalten habe, die dem Einfluss der Mittelmeerkultur entgangen seien und sich dadurch die Kunst der Wiederbelebung der Materie bewahrt hätten.
Andere Künstler waren und sind gerade an einer animistischen Beseelung der Materie nicht interessiert. Es sind dies die im weitesten Sinne konstruktiv arbeitenden Künstler, die Schöpfer von verfremdeten Holzobjekten und die Monteure von Assemblagen. Von ihnen wird die Materialität des Holzes eher heruntergespielt, überdeckt von Lacken und Farben bis zur völligen Auslöschung der natürlichen Struktur. Konstruktivisten im engeren Sinne wie Alexander Rodtschenko und Wladimir Tatlin setzten Sperrholz und Bauhölzer ein. Sie zeichnen sich durch einen gleichsam beiläufigen Gebrauch des Materials aus. Ihnen und den Künstlern, die einem verwandten Schaffensimpuls folgen, kommt es ersichtlich nicht auf das materiale Äußere als Vermittler subjektiven Ausdrucks oder vitaler Anmutungen an, sondern auf etwas anderes. Ihr Ziel ist die Schaffung gestalterischer Äquivalente für die Gesetzmäßigkeiten, die der sinnlich wahrnehmbaren Realität zugrunde liegen. Auch das dient letztlich einem gesteigerten Leben. Naum Gabo, einer der führenden Theoretiker des Konstruktivismus und zugleich einer seiner wichtigsten Plastiker, drückte es 1944 in einem Brief an einen Freund, den englischen Kunstkritiker Herbert Read, so aus: „`Abstrakt´ ist nicht der Kern der konstruktivistischen Idee, zu der ich mich bekenne. Diese Idee bedeutet mehr für mich. Sie umfasst den ganzen Komplex des menschlichen Verhältnisses zum Leben. Sie ist eine Art und Weise zu denken, zu handeln, zu empfinden und zu leben. Die Philosophie des Konstruktivismus erkennt nur einen Strom in unserem Dasein an – das Leben […]. Jedes Ding oder jedes Tun, das das Leben steigert, es vorwärtstreibt, ihm etwas hinzufügt im Sinne von Wachstum, Expansion und Entwicklung ist konstruktiv.“
Heiko Börners künstlerische Position ist in der Nähe des Konstruktivismus – oder zeitgemäßer – in der konstruktiven Kunst zu verorten. Zwar bewundert er einen Bildhauer wie Rudolf Wachter (1923-2011), aber er könnte nicht mit ihm sagen, dass die Natur der Ausgangspunkt für seine Formfindungen sei. Wachter ließ das Material selbst sprechen und verlieh dem Holz einen seiner natürlichen Struktur, seinen Jahresringen, Schrunden und Buckeln entsprechenden Ausdruck, ohne die Naturformen nachzuahmen. Börners Holzskulpturen verleugnen ihre Materialität nicht, aber auf Wuchsformen oder Maserungen nimmt ihr Schöpfer keine erkennbare Rücksicht. Geistig steht er eher Naum Gabo nahe. Auch Börner versucht, visuelle Formulierungen für etwas zu finden, das der Realität, wie wir sie wahrnehmen, zugrunde liegt, aber per se nicht sinnlich erfahrbar ist.
Wenn Gabo mit Stein arbeitete – was freilich nicht oft vorkam – vermochte er es, der soliden Masse dieses Materials durch Einschnitte die Anmutung des Festen, des Gewichtes zu nehmen und damit „ein Gefühl von Raum, der durch und um die Masse zirkuliert, zu schaffen“ (zum Beispiel die „Konstruktion: Stein mit Kragen“ von 1933). Ein zentrales Thema Gabos war die Definition von Raum. Er orientierte sich an Einsteins Raum-Zeit-Konzept, wenn er erklärte, er fühle, dass der visuelle Charakter des Raumes nicht rechtwinklig sei, sondern sphärischer Natur, wenn man die Raumvorstellung plastisch zum Ausdruck bringen wolle. Die Linien, die Gabo mitunter in die Flächen seiner Raumkonstruktionen einritzte – was auch sein Bruder Antoine Pevsner tat –, und die wie Strahlen die Ausdehnungsrichtungen dieser Flächen verdeutlichen, korrespondieren mit den aufgefaserten, rillenartigen Strukturen auf den Oberflächen der fließend wirkenden Partien an Börners Skulpturen. In den 1930er Jahren ging Gabo dazu über, anstelle solider Flächen Drähte oder Fäden zu verwenden, wozu ihn mathematische Modelle inspiriert hatten, die abwickelbare Oberflächen physikalisch darstellen. Börner greift mit einigen seiner Arbeiten dieses Verfahren auf. Zum einen bei der Installation mit Faden und Sandstein aus dem Jahr 2008 oder in seinen raumgreifenden Installationen mit Absperrband, zum anderen bei seinen 2005 vor den Stadtwerken Arnstadt und 2008 im Park der Sächsischen Landesgartenschau in Reichenbach im Vogtland aufgestellten Skulpturen, für die er Holz und Stahlstäbe verwendete.
Ähnlich wie die Konstruktivisten, die versuchten visuelle Metaphern für das Raum-Zeit-Kontinuum zu finden, interessiert sich Heiko Börner seit langem für die vierte Dimension, die Zeit, die dem klassischen Bildhauer nicht zugänglich ist. Börners Objekte sind raum-zeitliche Gebilde in einem nicht trivialen Sinn: Sie machen Prozesshaftes erfahrbar. Nun sind Skulpturen, soweit es sich nicht um „Mobiles“ handelt, naturgemäß etwas Statisches. Heiko Börner aber bietet alle ihm zu Gebote stehenden Mittel auf, um den Betrachter förmlich zu zwingen, seine Objekte als eingefrorene Bewegungsabläufe zu lesen. Seine Arbeiten erinnern an film stills, an Standfotos, die Sekundenbruchteile einer Filmsequenz optisch isolieren, die Bewegung aber ahnen lassen. Ohne metaphysische Überhöhung visualisieren sie letztlich Metamorphosen, in denen Körper ihre Gestalt ändern, um neue Formen anzunehmen. Dabei durchlaufen sie Zwischenstadien, an deren Ende ein neuer oder auch ein dem ursprünglichen ähnlicher Zustand stehen kann. Börners Skulpturen fassen gleichsam das Nacheinander in ein Zugleich zusammen. So erweckt die für die Sächsische Landesgartenschau geschaffene Arbeit – realiter aus zwei hölzernen, miteinander durch Stahlstäbe verbundenen Blöcken bestehend –, den Eindruck, jener Block, der in steil ragender Schräge ponderiert ist und lediglich mit einer Ecke aufruht, habe eine Bewegung ausgeführt: Als habe er sich in die Vertikale aufgerichtet, dann nach links gedreht, sich nach vorn bewegt, um dann in horizontaler Lage zur Ruhe zu kommen. Die Stahlstäbe, die beide Blöcke verbinden und visuell eine gekrümmte Fläche ergeben, zeichnen die Bewegung zwingend nach.
Noch deutlicher als die plastischen Arbeiten sind Heiko Börners Zeichnungen und Graphiken auf die Darstellung von Bewegungen und Prozessen konzentriert. Sie entstehen parallel zu den dreidimensionalen Gebilden, ohne Bildhauerzeichnungen im landläufigen Sinne zu sein. Es sind Sequenzen, die Phasenverläufe von Veränderungsprozessen zeigen. Ein Körper taucht aus der Fläche auf, verformt sich, um wieder seine ursprüngliche Gestalt anzunehmen und am Ende zu verschwinden. Zwei Körper vereinen sich, bilden etwas Neues, das sich seinerseits verändert, oder ein Körper teilt sich in mehrere auf. Diese Prozesse können zirkulär in sich zurücklaufen oder unendlich verlängerbar sein. Die graphischen Serien sind Ausgangspunkt für kleine, trickfilmartige Animationsfilme und Videos, die an die filmischen Experimente von Viking Eggeling (1880-1925) erinnern, der in den 1920er Jahren eine „bewegte Malerei“ antizipiert hatte, die abstrakte Formen in rhythmische Entwicklungssequenzen verwandelte.
Holzskulpturen zu begegnen, die überzeugende, ja faszinierende visuelle Metaphern für abstrakte, unanschauliche Zusammenhänge sind, ist ein rares ästhetisches Erlebnis. Heiko Börner gibt dem Material Holz, dessen er sich vorzugsweise bedient, eine im Kontext der zeitgenössischen Kunst neue und andere Bedeutung. Weder lässt er die Natur direkt sprechen, noch bringt er die spezifischen Eigenschaften seines Werkstoffs gänzlich zum Verschwinden. Hoher konstruktiver Formwille und die Sprache des Materials verbinden sich zu einem Werk, das Spannung und Harmonie vereint und so eine phantasievolle zeitgenössische Interpretation konstruktiver Gestaltungsprinzipien verwirklicht.
Andreas Kühne und Christoph Sorger
- Ionel Jianou, zit. in: Read, Herbert: Geschichte der modernen Plastik. Berlin u. a. 1966, S. 192.
- Ionel Jianou, a.a.O., S. 189.
- Zit. in: Read, Herbert: „Naum Gabo“, S. 39, in: Merkert, Jörn (Hrsg): Naum Gabo. Ein russischer Konstruktivist in Berlin 1922-1932. Berlin 1989.
- Nash, Steven A.: „Naum Gabo – die Transparenz der konstruktiven Form“, S. 36, in: Nash, Steven A . u. Merkert, Jörn (Hrsg.): Naum Gabo. Sechzig Jahre Konstruktivismus. München 1986.
- a.a.O., S. 38.
- ibid.