“Wir müssen versuchen, die eigentümliche, absolut heutige Form dieses nichtdialektischen Denkens zu entdecken.“
Michel Foucault

x – y – z – t
Koordinaten des Augenblicks

 

Worum es folgend kaum gehen wird, ist eine kunsthistorische Einordnung der Werke. Auch wird weniger von beeindruckten Augen ausgegangen, obgleich Heiko Börners in das Holz gehauenen Perspektiv-(Un-)Möglichkeiten das Sehen und Begreifen fraglos herausfordern. Hat sich das Moment der Überraschung gelegt und schaut man wieder und wieder in das seit 2000 sich fortschreibende Schaffen, steigt die Frage auf: Was denken die Werke?

x-y
Zum nicht-dialektischen Aufbau

Börners Installationen und Skulpturen scheinen ein nicht-dialektisches Denken zu denken. Bezüglich des Begriffes sei auf Michel Foucault verwiesen, der „nichtdialektisches Denken“ – ohne Bindestrich – seit den 1960er Jahren als neue Denkweise beschwor. Die alte Dialektik sah er als eine Philosophie falscher „Versöhnung“. Sie verspräche „dem Menschen in gewisser Weise, ein authentischer, wahrer Mensch zu werden“ und ließe sich nicht „von einer humanistischen Moral trennen.“(1) Dialektik ist, ganz allgemein, das Denken in These vs. Antithese hin zur Synthese. Ein alter Hut, den Kant, Hegel, Marx oder Adorno im 19. und 20. Jahrhundert – sehr verkürzend zusammengefasst – nicht nur zur Grundstruktur des Argumentierens, sondern des Denkens erhoben. Man nehme zwei Widersprüche und löse sie in ein Drittes auf. Dieses Dritte ist, wie das Zitat von Foucault andeutet, meist mit einem „Besser“ (moralisch, wirtschaftlich, technisch, ästhetisch usw.) verknüpft.

Börners Werke entfalten sich fast ausschließlich zwischen zwei Polen. Diese können an Amorphes erinnern, sind aber meist geometrischer Formensprache zuzuordnen. Beispielsweise ein Quader und eine Kugel stehen, verbunden über einen Holzsteg, einander gegenüber. Oder zwei unregelmäßige Kuben, Parallelogramme oder Zylinderformen wirken gespiegelt und stehen in Spannung zueinander. Die Verbindung zwischen ihnen ist von Verjüngung, schmalerer Eleganz und dynamisch eingekerbter Fragilität gezeichnet. Die Weisen der Gegenüberstellung sind „bipolar“ gerichtet. Die Spannung und die Dynamik innerhalb der Werke fließt von einem Pol zum anderen und(!) vice versa. Es gibt im Grunde keinen Anfang und kein Ende.

Nehmen wir die aufgemachten Polaritäten zusammen in den Blick: Heiko Börners Skulpturen stellen einander zwei Schwerpunkte gegenüber. Zwischen ihnen fließt ein beidseitiger intrinsischer Kräftestrom, der den allgemeinen Gesetzen der Gravitation enthoben scheint und eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Auf den ersten Blick mögen des Bildhauers Werke in ihrer polaren Grundstruktur dialektisch anmuten. Jedoch nicht in Börners Verzicht auf den Kampf zwischen den Polen und auch nicht in seinem Verzicht auf das „bessere“ Dritte. Sie stellen gegenüber, jedoch nicht gegeneinander. Gleichwertigkeit garantiert den bipolaren, nicht-dialektischen Energiefluss.
Ein weiteres, entscheidendes Detail: Börner fertigt seine Skulpturen aus einem Stamm. Der Stamm ist die Einheit, in der zu finden es gilt. Nichts wird eingefügt, der Stamm ist die Begrenzung. Indem Börner die Massepole in seinen Skulpturen aus einer Einheit als Einheit erarbeitet, steigt er aus einer in Widerstreit denkenden Dialektik aus, die ein lösendes Drittes verheißt. Jede Skulptur Börners ist ein eigener Kräfte- bzw. Energieraum, in dem ist, was ist. Das Werkbekenntnis zur Offenheit und Einheit verweigert sich dem Versprechen eines noch zu entbergenden „Besser“. Selbiges warf sich die Moderne in ihren gerichteten Selbstentwürfen immer wieder voraus und bereitete einer brüchigen Gegenwart aus reaktionären Allmachtsphantasien, Ressourcenkämpfen und Hungerkatastrophen den Boden. Ein Denken in Einheit ist etwas anderes als ein Denken in Einheiten.

x-y-z
Zur Gestaltung, glatt – gekerbt

In der Publikation sind zwei sehr unterschiedliche Werkgruppen zusammengefasst. Die Adjektive „glatt“ und „gekerbt“ ließen sich schnell einer jeweiligen zuordnen: „Glatt“ bezöge sich dann auf die Installationen mit Absperrband, „gekerbt“ auf die ins Holz gearbeiteten Skulpturen. Doch: Das Gekerbte ist auch glatt und das Glatte ist auch gekerbt. Zunächst sei jedoch konstatiert, dass es überrascht, wenn ein im Bereich Holz so versierter Künstler zeitgleich zum Absperrband greift. Anstatt hier einen Gegensatz zu suchen, den es dialektisch aufzulösen gälte, seien die künstlerischen Vorgehensweisen nebeneinander angeschaut. Es geht um Kräfte, Energieflüsse, Distanzen und Spannung – in beiden Werkgruppen. Auch das anorganische Absperrband erstreckt sich zwischen zwei Polen, die dessen Schwer- bzw. Haltepunkte sind. Der Aufbau ist ebenso nicht-dialektisch wie in den Skulpturen. Nähme ich in den Installationen einen der Rahmen, welcher die Bänder spannt, weg, hingen selbige durch und die bipolare Energie hauchte augenblicklich ihren Geist aus.

Die Adjektive „glatt“ und „gekerbt“ möchten nicht mit dem verwendeten Material kurzgeschlossen werden, sondern die Weisen der Werkdurchgestaltung näher bestimmen. Glatt-weiche, geritzt-rhythmisierte und pastos-gekerbte Oberflächen zeichnen die Holzskulpturen. Die verschiedenen Durchmusterungen triggern die retinale Haptik, beschleunigen oder verzögern die Abtastgeschwindigkeit des Sehapparates. Selbige, der Malerei bzw. der Zeichnung entlehnte Strategien, sind bei dem Absperrband nicht anwendbar. Hier erzielt der Künstler Momente des Seh-Stockens, indem er die Bänder gegeneinander verdreht und in Überlagerungen Zonen der Verdichtung anbietet. In Skulpturen wie Installationen wäre es jedoch verkürzend, „glatt“ und „gekerbt“ lediglich als Oberflächengestaltungselemente aufzugreifen. Börner nutzt sie zur Raumgestaltung.

Gilles Deleuze und Félix Guattari haben „Das Glatte und das Gekerbte“(2) in eine Theorie des Raumes überführt. Nach Deleuze und Guattari ist der „glatte Raum“ den Nomaden und der „gekerbte Raum“ den Seßhaften zugeordnet. Die Wüste, das Meer oder der Himmel, die nicht vom Menschen eingekerbten und vermessenen Räume, sind Paradebeispiele „glatter Räume“. Agrikultur, die Stadt oder auch Längen- und Breitengrade teilen die Weite in Abstände, Raum in Räume, Einheit in Einheiten. Strukturierung, Maß, Rhythmus stehen gegen das Glatte, machen es berechenbar.
In den Installationen von Börner bilden die Absperrbänder eine „Haut“ bzw. Grenze, die gekerbt ist, da ein Bänder-Rhythmus entsteht. Die leicht verdrehten Rahmen stören das Regelmaß, verdichten die Kerbungen, machen sie engmaschig und weiten sie wieder. So schneidet Börner innerhalb der bestehenden Architektur einen neuen, von Absperrbändern gezeichneten Installationsinnenraum aus. Doch was dieser umschließt, ist selber leer bzw. glatt und ungekerbt. Unserem haptischen Sehsinn gibt er nichts, wir können ihn nicht einmal sehen. In seine Glätte schieben sich die dahinterliegenden Bänder sowie der Umraum. Sie kerben und rhythmisieren die Glätte des inneren Raumvolumens, obgleich wir wissen, dass er leer ist. Börners klar definierte und nichts versteckende Installationen spannen Sehreusen in Raumvolumina, die trotz ihrer offenen Klarheit schwer zu fassen sind. „[O]hne jedes Werturteil, zeigen [sie], daß es zwei nicht symmetrische Bewegungen gibt, eine die das Glatte einkerbt, und eine andere, die ausgehend vom Eingekerbten wieder zum Glatten führt.“(3) Ein Denken im nicht-dialektischen Raum?

x-y-z-t
Zur Raum/Zeit

Das Glatte und Gekerbte sind bei Guattari und Deleuze v.a. auch Bewegungsbegriffe: In einem glatten (z.B. Steppe) bzw. gekerbten (z.B. Stadt) Zeit/Raum bewege ich mich anders. Ähnlich modelliert Börner in seinen Werken mittels glatter und gekerbter Momente die Dimension Zeit. Seine Installationen achten dabei den bestehenden, architektonischen Zeit-Raum, in den sie sich einspannen. In einem Gewölbekeller herrscht eine andere Zeit als vor dem Hochaltar. Welche Bewegung füge ich hier ein? In den Holzskulpturen achtet Börner ebenso den bereits vorhandenen Zeit-Raum: „Das Holz trägt die Zeit in sich. Die Jahresringe weisen auf die zeitliche Dimension hin. Ich arbeite mich gewissermaßen in einen Zeitraum hinein und bewege mich durch die Jahresringe hindurch auf die Skulptur zu“(4), so Börner 2019.

Die Raum-Zeit-Bewegungen von Kunstwerken, welche sich im Realraum entfalten, gehen mit dem Licht. Anders als die Malerei, die sich bis Édouard Manet ihr eigenes Licht malte und es durch Fenster, Schlüssellöcher oder schattige Tannen fallen ließ. Das Glatte und das Gekerbte einer Skulptur muss dagegen mit dem realen Lichteinfall arbeiten. Somit sind die skulpturalen Oberflächendurcharbeitungen auch als bildhauerische Bewegungsführung des Lichts zu lesen. Bemerkenswert ist das Zusammenkommen von malerischem und skulpturalem Denken Börners in den Installationen: Zwischen zwei Rahmen-Konstruktionen spannt er die künstlichen Absperrbänder in jeweiliger Farbigkeit. Neben der Farbe und der Form nutzt er natürliche oder künstliche Lichtquellen, um strömende Bewegungen auszulösen. Die Lichtkegel zupfen die Absperrband-Sehnen und bringen den Raum zum Klingen.

t-z-y-x
Vom nicht-dialektischen Wissen zum nichtdialektischen Nichtwissen

2020 zeigte Heiko Börner im Alten Schlachthaus Mosbach seine bis dato vielleicht Zeit/Raum-greifendste Installation (Abb. S.44/45). Im Zentrum, an Boden und Decke, ruhen zwei Holzrahmen. Hier erweiterte er die nicht-dialektische Bipolarität jedoch und befestigte in regelmäßigen Abständen zusätzlich vier Holzbalken an der Wand des Ausstellungsraumes. Diese dienten ihm als zusätzliche Spannmöglichkeiten. Dann zog er transluzide Folienhäute durch den Raum, von Balken zu Balken, richtete die Strahler aus und erschuf ein konzertantes Seherlebnis; eine ständige Bewegung ohne Anfang und Ende, deren dynamischste Energien man erlebte, wenn man sich dezentral positionierte oder im Raum bewegte. „Die in Entstehung begriffene nichtdialektische Kultur […] ist spontan in ganz verschiedenen Gebieten entstanden. Sie hat keinen privilegierten Ort“ und bietet „ein zerstreutes Bild.“(5) Der Weg im Werkdenken Heiko Börners scheint Fäden vom Nicht-Dialektischen zum Nichtdialektischen zu spannen, durch das Glatte und Gekerbte, zwischen absoluter Meisterschaft und Nichtwissen.

Foucault hat das Nichtdialektische in seinem Werk nicht klar definiert. Er äußerte aber die Ahnung, dass nichtdialektisches Denken nach dem „möglichen Verhältnis zwischen den verschiedenen Wissensbereichen, aber auch zwischen Wissen und Nichtwissen“(6) fragt. Für Foucault war die Malerei Paul Klees leuchtendes Beispiel eines nichtdialektischen Malraumes, da der Maler sich dem breiten Wissen – von kindlicher bis meisterlicher Handschrift – bediene und selbiges klar, offen und analytisch zur Anschauung bringe. Im Ausbreiten und Durchwandern der grundlegenden Elemente der Malerei kämen bei Klee das Wissen und Nicht-Wissen neu zur Anschauung.
Selbiges ließe sich auch von den Arbeiten Heiko Börners sagen. Seine Kunst atmet ein Wissen von seinen Studien an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar, der Berufsfachschule für Holzbildhauerei Empfertshausen, der Meisterschule für Holzbildhauerei München und der Akademie der bildenden Künste Wien. Jedoch, nicht von erworbenem Wissen scheint Börner angetrieben, sondern von seinem Wissen um Nichtwissen. Das erworbene Wissen ist gekerbter, das Nichtwissen glatter Raum. Die Installationen, Skulpturen und Zeichnungen zerlegen das Wissen seiner Kunst „in ihre Elemente und fügen sie zusammen“(7), so dass zwischen den grundlegenden Koordinaten Zeit/Raum-Bewegungen entstehen. Klar definiert, nichts versteckend, ohne Geheimnisse.

Heiko Börners Werk wird das vermeintliche Wissen dieses Textes dem Nichtwissen öffnen. Gut so, denn „[w]ir […] müssen das fortdauernde Verhältnis zwischen Nichtwissen und Wissen positiv begreifen, denn sie unterdrücken einander nicht; sie stehen vielmehr in einer ständigen Wechselbeziehung, lehnen sich aneinander an, und jedes lässt sich nur durch das andere Begreifen.“(8)

Michael Stockhausen

  1. Michel Foucault: „Ist der Mensch tot?“, 1966, in: ders., Schriften zur Medientheorie, Berlin 2013, S. 216.
  2. Gilles Deleuze und F.lix Guattari, „1440 – Das Glatte und das Gekerbte“, in: ders., Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 658 – 694.
  3. Ebd., S. 672.
  4. Caroline Kull, „Zwischen Momentaufnahme und Bewegung“, 15. M.rz 2019, blog.klassik-stiftung.de.
  5. Michel Foucault: „Ist der Mensch tot?“, 1966, in: ders., Schriften zur Medientheorie, Berlin 2013, S. 217.
  6. Ebd., S. 218.
  7. Ebd., S. 220.
  8. Ebd., S. 218.

<< zurück